Nachgefragt - die Reform der Zwangsbehandlung mit Neuroleptika in der Praxis der Betreuungsgerichte
Von RA Thomas Saschenbrecker Abhandlung
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Hinweis: um eine Fußnote zu lesen, bitte den Cursor direkt daraufhalten oder am Ende des Textes lesen Die Diskussion über die Zulässigkeit einer ärztlichen Zwangsbehandlung mit Neuroleptika gegen den Willen eines Patienten im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 BGB hat auch nach den richtungsweisenden Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes nach 20111 schon wegen der hohen Bedeutung des Grundrechts aus Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG nichts an Aktualität verloren. Mit Vorlagebeschluss vom 01. Juli 2015 - XII ZB 89/15 hat jüngst der BGH dem Bundesverfassungsgericht die Frage zur Entscheidung vorgelegt, ob § 1906 Abs. 3 BGB n.F. mit dem Gleichheitsgrundsatz aus Art. 3 Abs. 1 GG vereinbar sei. Motiv des 12. Senates des BGH war allerdings eher eine vermutete Schlechterstellung von betroffenen Patienten, die sich einer Zwangsbehandlung räumlich nicht entziehen wollen oder hierzu körperlich nicht in der Lage sind, gegenüber nach § 1906 BGB untergebrachten Betroffenen. Der BGH geht dabei von seiner eigenen engen Definition der mit Freiheitsentziehung verbundenen Unterbringung aus2, die nur solche Maßnahmen umfasst, welche die "persönliche Bewegungsfreiheit des Betroffenen nicht nur kurzfristig auf einen bestimmten räumlichen Lebensbereich" begrenzt. Die aufgrund ihrer persönlichen Disposition nicht von Freiheitsentzug betroffenen Personen wähnt der BGH deshalb benachteiligt, weil entsprechende Zwangsmaßnahmen nur im Rahmen einer Unterbringung nach § 1906 Abs. 1 BGB erfolgen könnten. Soweit eine solche nicht in Betracht käme, gäbe es auch keine Grundlage der Zwangsbehandlung. Auch wenn der BGH mit seinem Vorlagebeschluss mehr oder minder ersichtlich die Einführung einer rechtlich in hohem Maße bedenklichen ambulanten Zwangsbehandlung favorisiert, ist zumindest zweifelhaft, ob das Bundesverfassungsgericht diesem Drängen in Sinne einer allumfassenden Vernunfthoheit im Gesundheitswesen nachkommen wird3, um den Gesetzgeber in Konsequenz hieraus zur Schaffung von Rechtsgrundlagen für die ambulante Zwangsbehandlung zu veranlassen. Wesentlich naheliegender und mit weitreichenderen Folgen dürfte daher sein, dass eine Entscheidung der Verfassungshüter zum Vorlagebeschluss in letzter Konsequenz zu einer Ablehnung der Grundlagen der Zwangsbehandlung insgesamt führen könnte. Der Gesetzgeber wäre mit seiner Novelle zur Zwangsbehandlung gescheitert. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts4 und des Bundesgerichtshofs5 zum 26. Februar 2013 in Kraft getretenen Neuregelungen der § 1906 Abs. 3 und 3a BGB sowie der §§ 312, 323, 329 und 333 FamFG wollte der Gesetzgeber materielle und formelle Eingriffsvoraussetzungen für die Veranlassung einer ärztlichen Zwangsmaßnahme unter geschlossenen stationären Bedingungen durch den Betreuer neu schaffen6. Die Frage, ob dieses Vorhaben der Rechtspraxis gerecht geworden ist oder aber die Bedeutung und die Tragweite des Grundrechts aus Art. 2, Abs. 2, Satz 1 GG weiterhin verkannt wird, ist der Anlass, die Genehmigung der Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nach § 312 Satz 1 Nr. 1 FamFG in Verbindung mit § 1906 Abs. 1 bis 3a BGB nach zwei Jahren der Reform in der Praxis der Betreuungsgerichte in einer Totalerhebung zu erfragen. Das Bundesverfassungsgericht muss nach wie vor Verletzungen der Bedeutung und Tragweite des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG rügen7.
Nach einem Moratorium, das auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtes 2 BvR 882/09 vom 23.03.2011 und 2 BvR 633/11 vom 12.10.2011 gründete und den Bundesgerichtshof veranlasste, in zwei Beschlüssen vom 20.06.20128 zu § 1906 BGB a.F.9 die Zwangsbehandlung mit Neuroleptika für unzulässig zu erklären und seine bisherige Rechtsprechung zur medikamentösen Zwangsbehandlung im Rahmen des § 1906 BGB a.F. aufzugeben, soll die Zwangsbehandlung von nicht einwilligungsfähigen psychisch Kranken nach § 1906 BGB auf Bundesebene im Betreuungsrecht seit dem 26.02.2013 wieder möglich sein. Der Bundestag billigte am 17.01.2013 einen entsprechenden Gesetzentwurf von Union und FDP, wonach Ärzten grundsätzlich als `ultima ratio´ erlaubt wird, psychisch kranke oder geistig behinderte Menschen, die als nicht einwilligungsfähig gelten und bei denen keine wirksame Willensbekundung durch eine Patientenverfügung entsprechend § 1901a BGB vorliegt, auch gegen ihren Willen zu behandeln. Der Gesetzgeber hat durch das Gesetz zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme vom 18. Februar 201310 mit Wirkung vom 26. Februar 2013 in die Vorschrift des § 1906 BGB die neuen Absätze 3 und 3a eingefügt. So wurden die Voraussetzungen der Einwilligung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme, sowie das gerichtliche Genehmigungserfordernis geregelt. Die medizinische Behandlung gegen den natürlichen Willen (Zwangsbehandlung) einer betroffenen Person greift in deren Grundrecht aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG ein, das die körperliche Integrität der Grundrechtsträgerin und damit auch das diesbezügliche Selbstbestimmungsrecht schützt. Zwangsbehandlung ist rechtlich damit zunächst von Verfassungs wegen verboten. Zwangsbehandlung könnte damit wenn überhaupt, wie jeder andere Grundrechtseingriff, nur auf der Grundlage eines Gesetzes zulässig werden, das die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs bestimmte11.Der Grundsatz des Vorbehaltes des Gesetzes für die materiellen und für die formellen Eingriffsvoraussetzungen hat den Sinn, die primäre Zuständigkeit für die Bewertung von Grundrechtsbeschränkungen als begründet oder ungerechtfertigt zu bestimmen. Nur so ist gewährleistet, dass die Grenzen zwischen zulässigem und unzulässigem Grundrechtsgebrauch und zwischen zulässiger und unzulässiger Grundrechtseinschränkung nicht fallweise nach eigener Einschätzung von beliebigen Behörden oder Gerichten, sondern primär - in der Form eines allgemeinen Gesetzes - durch den Gesetzgeber gezogen werden12. Zudem wird durch einen Gesetzesvorbehalt regelmäßig eine richterliche Kontrolle der Maßnahme ermöglicht. Die Voraussetzungen für die Zulässigkeit des Eingriffs müssen hinreichend klar und bestimmt geregelt sein. Die zur Normanwendung berufenen Entscheidungsträger der Unterbringungseinrichtungen benötigen auch im eigenen Interesse eine "klare, Rechtssicherheit vermittelnde Eingriffsgrundlage"13. Die wesentlichen Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung müssen aus dem Gesetz selbst in materieller, als auch in verfahrensrechtlicher Hinsicht erkennbar sein. Das bedeutete eine "über abstrakte Verhältnismäßigkeitsanforderungen hinausgehende Konkretisierung dieser Voraussetzungen"14. Auch die weiteren Voraussetzungen für die Zulässigkeit einer Zwangsbehandlung, einschließlich der Anforderungen, denen die gesetzliche Grundlage für eine solche Behandlung genügen müsste, hat das Bundesverfassungsgericht zunächst in seinen beiden genannten Beschlüssen BvR 882/09 und 2 BvR 633/11 geklärt15, um folgende Voraussetzungen für eine Zwangsbehandlung, die dem erforderlichen Gesetzesvorbehalt auch materiell-rechtlich genügt, aufzustellen:
Kein Patient kann im Zuge einer Duldungspflicht genötigt werden, einen medizinischen Eingriff oder eine medizinische Behandlung und damit eine Maßnahme zu dulden, "die den Straftatbestand der Körperverletzung erfüllt". Jeder Eingriff in die körperliche Unversehrtheit ist "nur mit der Einwilligung des Betroffenen zulässig"19. Während es selbstverständlich ist, dass ein Patient auch unter den Bedingungen von freiheitsentziehenden Maßnahmen im Zuge seines Selbstbestimmungsrechtes jedwede ärztliche oder therapeutische Behandlung ablehnen darf, auch wenn gesundheitliche Gefahr droht20, soll dies bei einem psychisch kranken Menschen im Zuge einer speziellen Gesetzgebung für psychisch Kranke zumindest dann nicht gelten, wenn ein Facharzt für Psychiatrie bei dem Betroffenen von beabsichtigten Zwangsmaßnahmen "Einwilligungsunfähigkeit" konstatiert hat. Zwangsbehandlung wurde bis 2011 auf verschiedene Rechtsgrundlagen gestützt, betreuungsrechtlich auf die §§ 1904 und 1906 a.F. BGB, öffentlich-rechtlich auf landesrechtliche Vorschriften zur Unterbring psychisch Kranker (PsychKG). Anlässlich einer Entscheidung zum Unterbringungsgesetz
des Landes Baden-Württemberg hat das Bundesverfassungsgericht 1981 auf
die mögliche Gefahr einer "Vernunfthoheit des Arztes über den
Patienten" und einer "umfassende staatliche Gesundheitsvormundschaft"
hingewiesen. Dieser sei auf dem Rechtsweg im Zuge effektiver
richterlicher Kontrolle auch im Sinne eines "Rechtes auf Krankheit" zu
begegnen21.
Die Richter des BVerfG zogen dabei nicht die naheliegende
Konsequenz, die Legitimation von Zwangseingriffen generell in Frage zu
stellen. Vielmehr wurde in dieser Entscheidung aus 1981 zwischen
leichteren Formen psychischer Erkrankungen, bei denen eben dieses
"Recht auf Krankheit" gelten solle, und schwereren Verlaufsformen, bei
denen die "psychisch Kranken vor sich selbst in Schutz zu nehmen"
seien, unterschieden. Nur für die leichteren Verlaufsformen und
"Abweichungen vom Durchschnittsverhalten"22
anerkannten die Richter ein
Selbstbestimmungsrecht jenseits staatlicher Fürsorge. Gerade wegen der Potenzierung der Rechtsgutverletzungen des § 1906 BGB (dem Patienten wird durch Unterbringung auf einer geschlossenen Station seine Freiheit vollständig entzogen; er wird zwangsweise durch massive Eingriffe in die körperliche Unversehrtheit veranlasst, Psychopharmaka mit wesensveränderndem Einfluss und starken Nebenwirkungen einzunehmen) kann es zur denkbar schwersten Eingriffsintensität beim Betroffenen kommen. Er unterliegt schutzlos nicht nur dem Freiheitsentzug, sondern kumulativ hierzu der Zwangsbehandlung. Sie geht oft einher mit Fixierungen und anderen freiheitsbeschränkenden Maßnahmen des § 1906 Abs. 4 BGB. Eine Zwangsbehandlung eines einsichtsfähigen und
einwilligungsfähigen Patienten muss nach den verfassungsrechtlichen
Vorgaben zum Selbstbestimmungsrecht des Patienten aus den
Entscheidungen von 2011 und 2012 generell ohne Ausnahme künftig
ausscheiden. Das Bundesverfassungsgericht hatte damit eine
verfassungsrechtliche Rechtfertigung in sehr engen Grenzen zugelassen.
Der BGH hat darauf verwiesen, "dass das Fehlen von Zwangsbefugnissen
zur Durchsetzung notwendiger medizinischer Maßnahmen dazu führen könne,
dass ein Betroffener ohne eine solche Behandlung einen erheblichen
Schaden nehme"29.
Ebenso hält der 12. Zivilsenat des BGH ärztliche
Zwangsmaßnahmen außerhalb einer Unterbringung nach § 1906 Absatz 1 BGB
für wünschenswert30.
Dies obgleich der BGH noch 2000 in einer
anstaltsexternen Zwangsbehandlung eine andere, aber ebenso
schwerwiegende Eingriffsqualität im Sinne einer "Belastung für den
Betroffenen" gesehen hatte, weil der Betroffene sich nur mit Zwang,
unter Einschaltung der Polizei oder durch entsprechende Drohung, in das
Psychiatrische Krankenhaus zu einer Zwangsbehandlung verbracht sähe,
auch "wenn er die Behandlung dort ohne Gegenwehr über sich ergehen
lasse". Zudem erkennt der BGH in seiner Entscheidung aus 2000, dass die
"Art der Vorführung nach außen hin diskriminierende Wirkung" hat.31
Die Forderungen nach einem "Schweigen" des Gesetzgebers zu jeglicher Form der Zwangsbehandlung mit Neuroleptika im psychiatrischen Bereich wurde indes schon durch den am 1. Februar 2013 veröffentlichten Bericht über den Missbrauch von Gesundheitseinrichtungen erhoben. Der UN-Sonderberichterstatter über Folter und andere grausame, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Strafe, Juan E. Méndez, sprach sich für ein absolutes Verbot von jeglichen Zwangsmaßnahmen aus und empfiehlt den Staaten dem damals schon beschlossenen Gesetz gegenläufige gesetzliche Änderungen33. "Die Darstellung des Sonderberichterstatters" sei, so das Institut für Menschenrechte, "wegen der strengen menschenrechtlichen Anforderungen an die psychiatrische Versorgung in Einrichtungen für die aktuelle Diskussion in Deutschland zu Psychiatrie und Maßregelvollzug von großer Bedeutung und hoher Aktualität." Seine Position unterstreiche "das Erfordernis, die psychiatrische Versorgung in Deutschland konsequent am Ziel der Freiwilligkeit auszurichten und eine darauf verpflichtete Psychiatriereform voranzutreiben."34 Auch der UN-Fachausschuss für die Behindertenrechtskonvention (BRK) hat im September 2015 seine Richtlinien zur Interpretation und dem Umgang mit dem Artikel 14 der BRK, Freiheit und Sicherheit der Person, dahingehend verabschiedet, dass explizit die Möglichkeiten untersagt werden, die das Grundgesetz zur Aufhebung der Grundrechte durch ein Gesetz offen gelassen hat, wenn diese gesetzlichen Sonderregelungen eine "Behinderung" zum Kriterium haben35. Hierzu zählt auch die Zwangsbehandlung psychisch Kranker36. Eine solche Behandlung gegen den Willen wäre bei einem gesunden Menschen ausgeschlossen. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hatte sich schon 2013 in mehreren Stellungnahmen u.a. für den Deutschen Bundestag für eine "gewaltfreie Psychiatrie" ausgesprochen und ausgeführt, "Es bestehen nach wie vor große Zweifel, ob der Entwurf im Einklang mit der UN-Behindertenrechtskonvention steht"37. Menschenrechtlich und ethisch sei es "fragwürdig, ob eine psychiatrische Behandlung ohne freie Zustimmung der betroffenen Person vorgenommen werden dürfe". Vor dem Hintergrund der aktuellen menschenrechtlichen Diskussion und der Entwicklung des internationalen Rechts gebe es "schwerwiegende Bedenken gegen eine solche Regelung"38. Schon mit Verabschiedung der Gesetzesvorlage zur Zwangsbehandlung im Rahmen des § 1906 BGB habe Deutschland "eine historische Chance verpasst, aus den Erfahrungen einer Psychiatrie ohne Zwang zu lernen und das System der psychiatrischen Versorgung weiterzuentwickeln." Es werde mit einem falschen und unverhältnismäßigen Ansatz über eine gesetzliche Neuregelung der Zwangsbehandlung nachgedacht, ohne eine unabdingbare, umfassende Überprüfung der Psychiatrie und strukturelle Verbesserungen der psychiatrischen Versorgung auf der Basis der Menschenrechte erfolgen zu lassen39. Eine wesentliche Kritik des Bundesverfassungsgerichtes40 an einer Zwangsbehandlung mit Psychopharmaka besteht darin, dass in Deutschland, nachdem von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde (DGPPN) in den neunziger Jahren initiierte Versuche zur Etablierung medizinischer "Standards" für Zwangsbehandlungen zu keinem Ergebnis geführt haben41, "nach wie vor keine medizinischen Standards für psychiatrische Zwangsbehandlungen existieren. Aus denen müsste mit der notwendigen Deutlichkeit hervorgehen, dass Zwangsbehandlungen mit dem Ziel, den Untergebrachten entlassungsfähig zu machen, ausschließlich im Fall krankheitsbedingter Einsichtsunfähigkeit zulässig sind"42. Eine entsprechende Einsichtsfähigkeit sei verbindlich zu definieren. Distincte et clare gilt: Ebenso praktikable wie eindeutige Standards sind nicht denkbar. Bis heute gibt es keine verbindlichen Standards zur Beantwortung, auf welcher Grundlage Psychiater zur Einschätzung gelangen wollen, dass bei einem Patienten Einwilligungsunfähigkeit gegeben sei. Es gibt keine Standards für die Behandlung zur Wiederherstellung einer solchen Einwilligungsfähigkeit. Diese Wiederherstellung der Einwilligungsfähigkeit muss nach gesetzgeberischem Willen im Zuge der Gesetzesinitiativen erklärtermaßen das Ziel einer Zwangsbehandlung sein. Psychiatrische Diagnosen wie die Feststellung einer
psychiatrischen Erkrankung als Anlass einer Zwangsbehandlung
unterliegen dem zeitlichen, ethischen und auch kulturellen Wandel. Der
neu erschienene Diagnosekatalog DSM-5, der auch Grundlage für den neuen
ICD-11 als Standardverzeichnis psychischer Erkrankungen werden wird,
legt die Grenzen einer psychischen Erkrankung und einer
zugrundeliegenden Diagnose derart weit auseinander, dass "viele Gesunde
über Nacht zu psychisch Kranken"43
gemacht werden. Erwartet wird ein
signifikanter Zuwachs vermeintlicher, oder auch erfundener
psychiatrischer Krankheiten bei Kindern und bei Erwachsenen, die nicht
zuletzt auch die Grundlage von Zwangsbehandlungen und
Zwangsmedikationen sein können. Der Psychiater Allen Frances spricht in
seinem Buch "NORMAL" von einer regelrechten "Inflation psychiatrischer
Diagnosen" durch das neue Manual "DSM-V". Sich hieraus ergebende Gefahren für den vom Bundesverfassungsgericht geforderten Grundrechtschutz46 sind evident. Alleine die Diagnose einer psychischen Krankheit soll bei Annahme einer vorübergehenden Einwilligungsunfähigkeit Grundlage einer Zwangsbehandlung sein. Gerade aber der bislang bei allen Gesetzesinitiativen unbeantworteten vom Bundesverfassungsgericht47 gesehenen Frage, wie der Problematik der Ermangelung jedweder medizinischer Standards für Zwangsbehandlungen und das Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit einer Lösung zugeführt wird, kommt bei sämtlichen geplanten Novellierungen zur Zwangsbehandlung signifikante Bedeutung zu. Bezeichnenderweise hat auch der Direktor des National Institut für Mental Health (NIHM), Thomas Insel, am 29.4.2013 in einer NIMH-Veröffentlichung ausgeführt, dass sämtliche psychiatrische Diagnosen bisher keine hinreichende Validität hatten. Er spricht von einem "lack of validity"48. In Kumulation mit dem Umstand, dass es im Zuge einer Zwangsbehandlung keine freie Arztwahl, geschweige denn eine Option zur Auswahl der Therapie gäbe, sowie kein Recht, bei Zweifeln an der vorgeschlagenen Therapie einen anderen Arzt aufzusuchen, um sich eine zweite Meinung einzuholen49, das seitens vieler gesetzlichen Krankenkassen für ihre Versicherten eingeräumt wird, dürfte elementarer Grundrechtschutz vor dem Hintergrund immer weiter ausufernder, invalider, psychiatrischer Diagnosestellungen auf dem Spiel stehen.
In einer Totalerhebung wurden 676 Amtsgerichte in ganz
Deutschland per Fax angeschrieben. Vor dem Hintergrund der Reform
wurden sie gebeten, Fragen in 4 Komplexen zu beantworten50.
Es gingen
181 Antworten ein, von 5 Gerichten mehrere Antworten verschiedener
Richter, also 176 antwortende Amtsgerichte. Das sind rund 26 %. Die Fragen und Antworthäufigkeiten für die Komplexe A bis D lauteten wie folgt: Komplex A) A1. Werden an Ihrem Betreuungsgericht psychiatrische Zwangsbehandlungen richterlich genehmigt?
▢
Ja Vom gesamten Rücklauf waren:
Das AG Stolzenau autorisierte, dass dessen Verzicht auf Zwangsbehandlung öffentlich benannt wird. Komplex B) B1. Haben die Entscheidungen des BGH und des Bundesverfassungsgerichtes zur Unzulässigkeit der Zwangsbehandlung und die darauf folgende Reform des § 1906 BGB Einfluss auf die Anzahl der betreuungsgerichtlichen Unterbringungen?
▢ Nein Wenn ja, welchen? B2. Bitte nennen Sie uns die Anzahl der Verfahren, bei denen es in Ihrem Gericht seit dem 1.3.2013 zu Genehmigungen einer Zwangsbehandlung gekommen ist. Bezug wird in allen folgenden % Angaben nur auf die 176 - 28 = 148 Gerichte genommen, die Antworten gegeben bzw. nicht verweigert haben:
Komplex C)
▢ genaue Angabe über das Arzneimittel oder den
Wirkstoff,
Auffällig: Bei den vier Gerichten mit mehrfachen Antworten, sind die Antworten der Richter uneinheitlich. Komplex D)
▢
Nein
Die Umfragebögen und die Antworten der Gerichte sind im Internet abrufbar: http://www.psychiatrierecht.de/legende.htm Die Rechtsprechung reagiert im Ergebnis dieser Befragung verhalten auf die Novellierungen des Gesetzgebers zur Zwangsbehandlung. Die Anzahl der Unterbringungsverfahren sei rückläufig, so die Tendenz mancher Betreuungsgerichte in Hinblick auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes. Die strengen Voraussetzungen, die überhaupt noch zur
Unterbringung führen dürfen, sehen die Gerichte allerdings teilweise
als wenig praktikabel an. Die jeweiligen Entscheidungen der
Betreuungsgerichte werden dem Charakter einer Zwangsbehandlung als
"ultima Ratio" nicht gerecht. Besonders zeigt sich dies daran, dass nur
23,5 % der Zwangsbehandlung genehmigenden Gerichte alle 5 gefragten
Kriterien entsprechenden den höchstrichterlichen Beschlüssen erfüllten. Die befragten Gerichte haben sich in der weit überwiegenden Anzahl für den Vorrang einer Patientenverfügung und für die Beachtung der Vorsorgevollmacht ausgesprochen und diese als Hindernis der Überwindung eines entgegenstehenden Willens bei der Zwangsbehandlung anerkannt. Bedenklich ist gleichwohl, dass rd. 20% der Gerichte nach wie vor Schwierigkeiten haben, die eindeutigen Prämissen des Gesetzgebers umzusetzen, um generell gegen eine Zwangsbehandlung zu entscheiden, wenn eine Patientenverfügung vorliegt, die Zwangsbehandlung untersagt. Hier sind die Betreuungsgerichte künftig gehalten, neue auf dem individuellen Willen basierende Lebensmodelle jenseits des psychiatrischen Zwangs zuzulassen, denn auch die Mitgliedschaft "in einem sich gegen den Einsatz von Psychopharmaka engagierenden Verein" muss einem Betreuungsgericht Anlass sein, zu ermitteln, ob sich der Betroffene nicht schon "im Zustand freier Willensbildung zur Absetzung der Neuroleptika entschieden hat" und ein beachtlicher, der Zwangsbehandlung entgegenstehender, Wille kundgetan wurde52. Die Last der Prüfungsdichte, die die Betreuungsgerichte als kaum praktikabel beklagen, wiegt in Hinblick auf diese aktuellen Entscheidungen des Verfassungsgerichtes noch schwerer. Auch bei psychiatrischer Behandlung wird es den selbstbestimmten Patienten geben. Die bisherige Praxis der Behandlung eines Betroffenen gegen seinen Willen mit Neuroleptika wird zum Auslaufmodell.
Auch wenn in der Umfrage keine Fragen gestellt wurden, die auf die seit dem 1.1.2009 zum einfachen Gesetz gewordene BRK eingehen, ist auch für die Gerichte der seit dem 17.5.2015 vorliegende Staatenbericht des zuständigen UN-Fachausschusses über Deutschland bedeutsam. In ihm wird im Hinblick auf die Psychiatrie scharfe Kritik geübt, siehe insbesondere Artikel 11., 12., 25., 26., 29., 30., 33., 34. 38. Z.B. wird Zwangsbehandlung als Folter bezeichnet53. Die Regelung zur Zwangsbehandlung zielt nach den Feststellungen des Deutschen Institutes für Menschenrechte darauf ab, sich über das Kriterium der Einwilligungsunfähigkeit "über den natürlichen Willen der betroffenen Person hinwegsetzen zu können und an die Stelle der persönlichen Entscheidung die Entscheidung Dritter zu setzen - eine so genannte, durch die BRK untersagte, ersetzende Entscheidungsfindung ("substituted decision-making")." Ergänzend wird dort ausgeführt: "Im Lichte der aktuellen menschenrechtlichen Diskussion, wie sie auch in Studien des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (UN Doc. A/HRC/10/48 vom 26. Januar 2009) und in der Auslegungspraxis des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen im Zusammenhang der gesundheitlichen Versorgung von Menschen mit Behinderungen Ausdruck findet, ist der Ansatz, wonach eine psychiatrische Behandlung ohne freie und informierte Zustimmung der betroffenen Person, allein legitimiert über die Entscheidung Dritter vorgenommen werden soll, menschenrechtlich in Frage gestellt."54 Die gesetzlichen Regelungen des § 1906 BGB haben eine
"Behinderung" zum Kriterium, die gemessen an den Grundsätzen des
Artikel 14 der Behindertenrechtskonvention, Freiheit und Sicherheit der
Person, als Sondergesetzgebung gegen geltendes Konventionsrecht
verstoßen. So der UN-Fachausschuss für die BRK und dessen in der 14.
Sitzung aufgestellten Richtlinien zur Interpretation und dem Umgang mit
dem Artikel 14 BRK55. "In Deutschland existieren,
nachdem von der Deutschen
Gesellschaft für Psychiatrie, Psychotherapie und Nervenheilkunde
(DGPPN) in den neunziger Jahren initiierte Versuche zur Etablierung
medizinischer Standards für Zwangsbehandlungen nicht zu einem Ergebnis
geführt haben (vgl. Steinert, in: Ketelsen/Schulz/Zechert, Seelische
Krise und Aggressivität, 2004, S. 44 <47>), keine
medizinischen Standards für psychiatrische Zwangsbehandlungen, aus
denen mit der notwendigen Deutlichkeit hervorginge, dass
Zwangsbehandlungen mit dem Ziel, den Untergebrachten entlassungsfähig
zu machen, ausschließlich im Fall krankheitsbedingter
Einsichtsunfähigkeit zulässig sind. Dass dementsprechend ein
Bewusstsein hierfür in den medizinischen und juristischen Fachkreisen
noch nicht allgemein verbreitet und eine gesetzliche Regelung, wie im
Beschluss des Senats vom 23. März 2011 festgestellt, unverzichtbar ist,
illustriert nicht zuletzt der vorliegende Fall, in dem weder die Klinik
noch die Fachgerichte sich mit der Frage, ob beim Beschwerdeführer eine
krankheitsbedingte Unfähigkeit zur Einsicht in die Notwendigkeit der
Behandlung bestehe, auch nur ansatzweise auseinandergesetzt haben. Die
bloße Feststellung einer Persönlichkeitsstörung beantwortet diese Frage
nicht."56
Der Begriff der Einwilligungsunfähigkeit ist schon deshalb problematisch, weil der Begriff in Ermangelung von Standards, als unbestimmter und damit ausfüllbarer und sich wandelnden subjektiven Definitionen zugänglicher Rechtsbegriff gelten muss. Als solcher wird er wegen der Eingriffsintensität den Anforderungen des Bundesverfassungsgerichtes ebenso wenig genügen, wie in den Vorentscheidungen der Begriff der "Regeln der ärztlichen Kunst"57. In einer Entscheidung vom Februar 2013 hat das Bundesverfassungsgericht zu § 22 SächsPsychKG in einem weiteren Nichtigkeitsbeschluss zu entsprechenden Regelungswerken der Länder ausgeführt: "… dass § 22 Abs. 1 Satz 1
SächsPsychKG auf die Regeln
der ärztlichen Kunst verweist, ändert daran nichts. Unabhängig von der
Frage, ob dieser Verweis überhaupt hinreichend deutlich eine umfassende
Bindung an die Regeln der ärztlichen Kunst statuiert, liegt in einer
solchen Bindung keine hinreichend deutliche gesetzliche Begrenzung der
Möglichkeit der Zwangsbehandlung auf Fälle der fehlenden
Einsichtsfähigkeit."58
Ohne die Schaffung von Grundvoraussetzungen und Standards besteht jedenfalls die konkrete Gefahr einer Subjektivierung des Begriffes der Einwilligungsunfähigkeit je nach Gutdünken des jeweiligen Arztes oder Gutachters. Eine Kritik, der sich auch die DGPPN nicht verschließen kann, wenn und soweit kritisch ausgeführt wird: "Als wenig praxisgerecht erscheint dagegen die Forderung, dass unbeteiligte Sachverständige, die nicht in die Behandlung einbezogen und nicht in der behandelnden Klinik tätig sind, in dem rechtlichen Verfahren gutachterlich tätig werden sollen. (….) Erschwerend kommt der Mangel an kompetenten, externen Gutachtern dazu59." Damit wird von höchster fachpsychiatrischer Ebene die Gutachterkompetenz bei der Einschätzung einer Einwilligungsunfähigkeit, die immerhin über das "ob und wie" eines erheblichen Grundrechtseingriffes entscheidet, in Frage gestellt und eingeräumt, dass je nach subjektiver Gedankenwelt und Vorstel-lungen des Sachverständigen Ergebnisse bei gleichem Probanden variieren und letztlich ein schlichtes Bauchgefühl über Freiheit oder Unterbringung und Zwangsmedikation entscheidet. Bei einem psychologischen Sachverstän-digengutachten muss es sich hingegen um eine wissenschaftliche Leistung handeln. Die Einschätzung einer Nichteinsichtsfähigkeit in eine Behandlung ist fachlich hochgradig instabil bzw. subjektiv, weil bislang keine handhabbaren Kriterien existieren, zwischen Einsichtsfähigkeit und Nichteinsichtsfähigkeit zu unterscheiden. Hierauf einen Eingriff in Grundrechte zu stützen, ist verfassungsrechtlich jedenfalls unhaltbar.
Die Regelungen zur Patientenverfügung des Gesetzesvorhabens trägt dem Selbstbestimmungsrecht Rechnung. Diesem Willen wird aber nach wie vor nicht von allen Betreuungsgerichten für eine Untersuchung wie auch für eine Behandlung Rechnung getragen. Jeder Mensch hat das Recht, sich in freier Entscheidung gegen eine Unterbringung zu seinem eigenen Schutz zu entscheiden und stattdessen mit den Risiken seiner Krankheit in Freiheit leben zu wollen. Diese Entscheidung kann auch in einer Patientenverfügung für den Fall eines späteren Verlusts der Einsichtsfähigkeit niedergelegt werden60. Die Regelungen erfolgen in Beachtung des aus § 1901a Abs. 1 Satz 1 BGB resultierenden Selbstbestimmungsrechtes eines Patienten bei Errichtung einer Patientenverfügung. Das Recht auf Selbstbestimmung und die personale Würde des Patienten (Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG) gebieten es, jedem Patienten gegenüber einem Arzt und Krankenhaus grundsätzlich Anspruch auf Ablehnung von Diagnosestellungen und ärztlichen Behandlungen einzuräumen. Der Vorrang wird unbedingt gewährt. Es entspricht den Vorgaben des Verfassungsgerichtes zu einem generellen Zwangsbehandlungsverbot bei Einwilligungsfähigkeit bzw. antizipierter Willensbekundung im Zustand der Einwilligungsfähigkeit.
Inzwischen hat sich in der Rechtsprechung durchgesetzt, dass die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes vom 23.03.2011 (NJW 2011, 2113ff.) sowie vom 12.10.2011 (NJW 2011, 3571ff) für alle gesetzlichen Regelungen über Zwangsbehandlungen Bedeutung haben und Zwangsbehandlungsgesetze generell den vom Bundesverfassungsgericht aufgestellten Anforderungen genügen müssten61. Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichtes sind auch in der Rechtsprechung und weiten Teilen der Literatur allgemein als verbindlich für alle Regelwerke betreffend Zwangsmaßnahmen bei der Gabe von Neuroleptika angenommen worden. Die Monitoring-Stelle zur UN-Behindertenrechtskonvention, die in Berlin am Deutschen Institut für Menschenrechte angesiedelt ist, sieht die Wiedereinführung von Regelungen zur Zwangsbehandlung als nicht zulässig. In einer Stellungnahme der Monitoring-Stelle zur
öffentlichen Sitzung des Rechtsausschusses des Bundestages vom Dezember
2012 wird hervorgehoben, dass das Konzept der "krankheitsbedingten
Nichteinsichtsfähigkeit" im Wortlaut der
UN-Behindertenrechtskonventionen selbst keinen Halt finde. Die UN-BRK gehe davon aus, dass alle Menschen mit
Behinderungen "Rechts- und Handlungsfähigkeit" genießen (Artikel 12
Absatz 2 UN-BRK). In Verbindung mit dem Recht auf Gesundheit (Artikel
25 UN-BRK) bedeutet dies das Recht, in Fragen individueller
gesundheitlicher Angelegenheiten in allen Fällen eine "freie und
informierte Entscheidung" über die eigenen gesundheitlichen Belange
treffen zu dürfen, insbesondere darüber, ob und wenn ja, welche
Therapie angewendet wird. Die zwangsweise Unterbringung und zwangsweise Behandlung
von Menschen mit Behinderungen stelle eine Reihe von menschenrechtlich
verbrieften Rechtsgewährleistungen in Frage. Darüber hinaus sei die Einschätzung einer
Nichtzustimmungsfähigkeit in eine Behandlung fachlich hochgradig
instabil, weil handhabbare Kriterien bislang nicht zu finden sind,
zwischen Einsichtsfähigkeit und Nichteinsichtsfähigkeit zu
unterscheiden. Der Sonderberichterstatter über Folter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte, Juan E Méndez, erklärte in der 22. Sitzung des "Human Rights Council" am 4. März 2013 Zwangsbehandlung in der Psychiatrie zu Folter bzw. zu grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung. Er forderte, dass alle Staaten ein Verbot aller nicht einvernehmlichen medizinischen bzw. Zwangsbehandlungen verhängen sollten, einschließlich nicht-einvernehmlicher Psychochirurgie, Elektroschocks und Verabreichung bewusstseinsverändernder Drogen, sowohl in lang- wie kurzfristiger Anwendung. Die Verpflichtung, erzwungene psychiatrische Behandlung zu beenden, sei sofort zu verwirklichen und auch knappe finanzielle Ressourcen können keinen Aufschub der Umsetzung rechtfertigen63. Auch der frühere Bundesrichter Wolfgang Neškovic kritisierte das Zwangsbehandlungsgesetz. Die Kriterien seien "bevormundend und paternalistisch". Sie "ignorierten das Selbstbestimmungsrecht", sie "entwürdigten den Patienten zum Objekt". Genau das habe das Patientenverfügungsgesetz verhindern wollen. Das sollte nicht nur für Komapatienten und Demenzkranke, sondern für die gesamte Gruppe der "Einsichtsunfähigen" gelten. Wenn der Patient seinen Willen aktuell aber nicht klar äußern könne, müsse "auf dessen ausdrückliche Verfügung oder seinen mutmaßlichen Willen anhand konkreter Anhaltspunkte zurückgegriffen" werden64. Die Kritik an Zwangsbehandlung stützt sich auf Verfassungsrecht. Es muss auch für den Einwilligungsunfähigen gelten. Das Bundesverfassungsgericht habe Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG menschenrechtlich zutreffend als Aktivrecht jeder Person ausgelegt: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit." Art. 2 Abs. 2 Satz 2 GG laute konsequent: "Die Freiheit der Person ist unverletzlich." Das bedeute, jeder erfahre sich als Person, indem er über sich, das eigene Leben und die eigene Unversehrtheit zu allererst ihres/seines Körpers selbst entscheidet. Darum habe das Verfassungsgericht zutreffend formuliert, es sei unzulässig, stellvertretend, und sei es als Psychiater aus gesundheitlichen oder anderen Gründen der Rehabilitation, eine Person zwangsweise zu behandeln. Die Selbstbestimmung des Menschen schließe alle kranken oder gesunden Befindlichkeiten ein. Indem das Bundesverfassungsgericht über die historisch herkömmliche Begrenzung des Kerns der Menschenrechte als Abwehrrechte hinausgehe, folge es der BRK der Vereinten Nationen von 2006. Sie sei auf Vorschlag der Bundesregierung im Dezember 2008 vom Deutschen Bundestag als Gesetz übernommen worden. Die Behindertenrechtskonvention gehe folgerichtig im Sinne der Wirklichkeit des Menschen und seiner sozialen Bedingungen darüber hinaus. Sie verlange, die sozialen, technischen und wissenschaftlichen Bedingungen zu schaffen um Behinderungen zu überwinden. Die Behinderten würden ansonsten um ihre Grund- und Menschenrechte gebracht, obwohl sie nominell gelten65. Die "Freiheit zur Krankheit", als Ausfluss des allgemeinen Persönlichkeitsrechts und der allgemeinen Handlungsfreiheit werde durch die Entscheidungen der Gerichte bekräftigt. Der Staat müsse es von jeher hinnehmen, schreibt Rinke 1988 in der Neuen Zeitschrift für Strafrecht, wenn der Bürger fürsorgerische Leistungen eigenverantwortlich ablehne66. Zwei Jahre nach in Kraft treten des BGB-Gesetzes zur
Zwangsbehandlung kann nur dessen Scheitern festgestellt werden: es hat
das Ziel einer "Ultima Ratio" Regelung verfehlt, stattdessen
Rechtsunsicherheit geschaffen. Der Versuch körperlich Kranke und
psychisch Kranken ungleich zu behandeln und letztere rechtlich mit
einem Sondergesetz zu diskriminieren, wenn sie einwilligungsunfähig
diagnostiziert werden sollten, ist ein Verstoß gegen den
Gleichbehandlungsgrundsatz von Art. 3 GG und gegen den Kern der BRK. Es
darf kein staatliches Monopol gesundheitlicher Bevormundung mit Zwang
geben. Freie Willensentscheidung mit körperverletzendem Zwang erreichen
zu wollen, ist in sich paradox. Entweder Grundrechte oder Behandlung um jeden Preis.
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